Schweizer Auswanderung

Von Prof. Dr. Leo Schelbert
Übersetzung: PD em. Dr. phil. Heinz Balmer 
Publiziert mit freundlicher Erlaubnis des Autors.

Leute aus Gegenden der heutigen Schweiz waren immer schon in Bewegung, seit sie sich hier niedergelassen hatten. Als um 1515 der Staat gebildet war, schauten seine Bürger nach Gelegenheiten aus, um sich auswärts zu beschäftigen und niederzulassen. Die Grenzen zwischen vorübergehenden und ständigen, arbeitsbezogenen oder landsuchenden Bewegungen sind fliessend geblieben. Insgesamt aber können sie eingeteilt werden als Auswanderungen zu militärischen, gewerblichen, missionarischen und kolonisatorischen Zwecken.

Zwischen 1500 und 1850 haben zwischen 850`000 und einer Million Schweizer in fremden Armeen gedient. Bis zur Amerikanischen und Französischen Revolution war das Soldatentum als Söldnerdienst ein Beruf in der westlichen Kultur, und die Truppen umfassten oft Kämpfer aus jedem Winkel Europas. Wohlhabende Leute setzten ihr Geld ein, um Kompanien oder Regimenter aufzustellen, deren Dienste dem Meistbietenden angetragen wurden, sei es nun der französische oder der preussische König oder die Holländisch-Ostindische Kompanie. Junge Männer höherer Stände gewannen fern der Heimat als Offiziere wertvolle Erfahrung. Nach ihrer Rückkunft nahmen sie später leitende Stellungen in der Wirtschaft oder Politik ein. Bürgerliche wurden für auskömmlichen Sold im Dienst eines Truppeneigentümers aufgeboten. Durch mehr als dreieinhalb Jahrhunderte bestanden etwa 660 schweizerische Einheiten, die teilweise mit Leuten aus der Schweiz bestückt waren, in den Armeen von Frankreich, Holland, England, beim Papst oder bei anderen Nationen aller Erdteile. Solche Dienste mehrten sich noch, als leitende europäische Länder nicht nur daheim Kriege führten, sondern auch ausserhalb Europas, um Völker in Afrika, Asien, Amerika und Australien zu unterwerfen, wo sie Kolonien gründen und ausbeuten wollten. In Nordamerika, Australien und Neuseeland unternahmen europäische Eroberer und ihre Nachfahren Feldzüge, um die einheimische Bevölkerung zu ihren eigenen Gunsten zu verdrängen.

In naher Verbindung mit diesen weltweiten Kriegen, bei denen Schweizer mannigfach und kräftig mitwirkten, standen die Tätigkeiten von Schweizer Kaufleuten, Handwerkern und Missionaren. In Europa pflegten Handwerksgesellen einige Zeit auswärts auf die Walz zu gehen. In einzelnen Städten Europas besassen zudem schweizerische Spezialarbeiter ein Alleinrecht, so in Wien und Den Haag die Kaminfeger oder in Venedig die Zuckerbäcker. An solchen Orten füllten sie den Nachwuchs mit Jünglingen aus ihrer Heimat auf. Gruppen von Baumeistern aus den Tessiner Tälern – Architekten, Steinmetze, Maurer und Schreiner – zogen im 16. bis 18. Jahrhundert durch ganz Europa, von Spanien bis Russland, um Kirchen und Paläste zu errichten.

In Übersee arbeiteten zahlreiche Schweizer als christliche Missionare nicht allein im Sinn ihres Glaubens, sondern auch im Dienste der Kolonisation. Jesuiten, Kapuziner, Benediktiner sowie Frauen und Männer anderer katholischer Orden trugen das Evangelium in der westlichen Erdhälfte nach Neuspanien und Mexiko, aber ebenso nach Ost- und Westafrika, Indien, China und Japan. 1815 wurde die Basler Mission gegründet als eine über den Gruppen stehende protestantische Einrichtung, die deutsche und schweizerische Missionare in die Kolonien entsandte, während andere die Armenier und Tataren zu bekehren versuchten. Im Französisch sprechenden Teil der Schweiz schlossen sich verschiedene frühere missionarische Gruppen 1883 zur „Mission Suisse Romande“ zusammen. Auch sie schickte Missionare aus. In jenem Jahre wirkten von ihr 90 Leute in Übersee, während es von der Basler Mission 73 und von der Pariser Mission 86 waren. 1929 befanden sich insgesamt 350 Schweizer Protestanten als Missionare in der Ferne. Eine neue katholische Schweizer Missionsinstitution wurde 1921 gegründet. Um 1960 wirkten von ihr 150 Missionare in Südrhodesien (dem heutigen Simbabwe), in der Provinz Iwateken in Japan und in Kolumbien

Wie in militärischen, kaufmännischen und religiösen Anstrengungen waren Schweizer Niederlassungen auch an anderen europäischen Tätigkeiten im Ausland beteiligt. Zunächst in Europa wurden auf Einladung örtlicher Herrscher Dörfer gegründet. 1683 zogen etwa 200 Familien in die Mark Brandenburg, 1709 etwa 750 nach Ostpreussen und in den späten 1760er Jahren etwa 300 nach Spanien in die Sierra Morena. Zwischen 1650 und 1917 zogen schätzungsweise 45`000 Schweizer nach Russland, teils nach städtischen Zentren wie St. Petersburg und Moskau, teils als Bauern, Handwerker und Käser in Gegenden an der Wolga und auf der Krim. Zwischen 1917 und 1921 kehrten um die 6`000 Nachkommen aus Russland in ihre Heimat zurück. Noch erstaunlicher war die Emigration nach Aussereuropa. In Ägypten waren Schweizer als Kaufleute, Bankiers und Techniker tätig, vorab in Alexandria, Kairo und Port Said. Um 1815 lebten um 300 Schweizer in Französisch Nordafrika. Diese Zahl stieg zwischen 1887 und 1938 auf 7`000. Um 1`200 Schweizer wirkten in Südafrika und rund 1`000 in anderen Gegenden Afrikas. Die westliche Hemisphäre, besonders Nordamerika, zog zwischen 1700 und 1914 nahezu eine halbe Million Schweizer als Siedler an. 1871 zählte Kanada 3`000 Schweizer; 1981 waren es 76`310. Viele von ihnen waren nur teilweise von schweizerischer Abstammung, 23`610 jedoch von rein schweizerischer Herkunft. Während des 18. Jahrhunderts liessen sich rund 20`000 in Gegenden nieder, die heute zu den Vereinigten Staaten gehören. Zwischen 1820 und 1914 folgten ihnen vermutlich weitere 400`000. 1818 gründeten um 2`000 Schweizer Auswanderer Nova Friburgo in Brasilien. Zwischen 1850 und 1928 zogen etwa 40`000 nach Argentinien und 3`000 nach Chile. Bis 1891 hatten sich schätzungsweise 2`500 Schweizer in Australien angesiedelt und bis 1916 etwa 700 in Neuseeland.

Seit 1950 erfolgte ein starker Austausch von Schweizern als Teil der Globalisierung, besonders durch grössere Firmen. Ende 2005 waren mehr als 634`216 Schweizer Bürger an auswärtigen Schweizer Konsulaten registriert. Von ihnen wohnten 383`548 (60,5 Prozent) in Ländern der Europäischen Union (EU) und 163`122 in der westlichen Hemisphäre, davon 71`773 in den Vereinigten Staaten. Alle diese Auslandschweizer bilden einen bedeutenden Teil des schweizerischen Gemeinwesens. Sie vertreten nicht nur die Interessen der Schweiz im Ausland, sondern beteiligen sich auch an den Abstimmungen über Gesetze und Wahlen in der Heimat.

Leo Schelbert, geboren 1929, war zuerst Gymnasiallehrer, dann studierte er in New York amerikanische Geschichte mit Schwerpunkt Einwanderung. 1966 Promotion an der Colombia Universität. Er lehrte von 1963 bis 1969 an der Rutgers Universität in Newark, New Jersey, und nach zwei Forschungsjahren in der Schweiz von 1971 bis 2003 an der Universität von Illinois in Chicago. Er ist Autor und Herausgeber verschiedener Bücher und zahlreicher Artikel und lebt mit seiner Familie in Evanston, Illinois.